Wirtschaftsexperte Michael Zondler: Dauerwahlkampf darf Politik nicht lähmen

Wichtige Zukunftsfelder in NRW liegen brach

Von Ansgar Lange +++ Düsseldorf/Sindelfingen, März 2012 – Das Experiment einer rot-grünen Minderheitsregierung in Deutschlands bevölkerungsstärkstem Bundesland ist gescheitert. Am 13. Mai gibt es Neuwahlen in Nordrhein-Westfalen. Die meisten Auguren gehen davon aus, dass CDU, FDP und Linke, die den „Sturz“ der Landesregierung vermeintlich herbeigeführt haben, am Ende mit einer neuen rot-grünen Regierung „belohnt“ werden. Umfragen sehen die SPD vorn. Überdies ist es Hannelore Kraft innerhalb von sehr kurzer Zeit gelungen, recht populär zu werden. Anders als der intellektuelle CDU-Landeschef Norbert Röttgen gibt die 50-jährige Politikerin die Frau aus dem Volke, versehen mit einer ordentlichen Portion Ruhrpottcharme.

Im Wahlkampf dürfte sie auf die Themen Bildung, mehr Geld für Kindergärten und größere Unterstützung für die Kommunen setzen. Mit ihrem „Stärkungspakt Stadtfinanzen“ konnte sie selbst schwarze Oberbürgermeister überzeugen. Das, was ihr Kontrahent Röttgen als Schuldenpolitik brandmarkt, deklariert sie als Politik der sozialen Vorsorge.

Der Rheinländer Röttgen dürfte hingegen auf einer anderen Klaviatur spielen. Nur mit der CDU könne der Weg zu soliden Staatsfinanzen beschritten werden, dürfte sein Credo lauten. Allerdings hat der ehrgeizige Röttgen einige offene Flanken. Seine Energiewende, für die er als Bundesumweltminister verantwortlich ist, gilt als umstritten. Bei Christdemokraten, die für Kernkraft sind, erfreut er sich geringer Sympathien. Außerdem hat er bisher nicht gesagt, dass er auch als Oppositionsführer nach Düsseldorf gehen würde. Zudem konnte er in der landespolitischen Debatte bisher, so seine Kritiker, nicht entscheidend punkten. Dass die CDU gemeinsam mit Grünen und SPD einen „Schulfrieden“ geschlossen hat, dürfte vor allem der Regierung auf der Habenseite zugeschrieben werden. Die früher oft heiß diskutierte Schulpolitik entfällt diesmal als Mobilisierungsthema für bürgerliche Wähler.

Außerdem ist unklar, mit wem Röttgen denn regieren könnte. Die Grünen, mit denen das frühere Mitglied der „Pizza-Connection“ flirtete, haben ihm erst mal einen Korb gegeben. Ihr Selbstbewusstsein ist groß, schließlich liegen sie laut aktuellen Umfragen bei 17 Prozent. Bei der Wahl 2010 hatten sie „nur“ 12,1 Prozent erreicht. Andererseits gilt Röttgen nicht unbedingt als Freund der FDP. So liegt er in Sachen Energiewende mit FDP-Chef Philipp Rösler über Kreuz. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass es für Rot-Grün nicht reichen sollte, sind also auch ein schwarz-grünes Bündnis und eine große Koalition nicht ausgeschlossen.

Für das weitere Schicksal der Liberalen – nicht nur an Rhein und Ruhr – wird entscheidend sein, ob die Politik-Rückkehr des erst im Dezember 2011 als Generalsekretär zurückgetretenen Christian Lindner für Auftrieb sorgen wird. Eigentlich sollte der smarte Ehegatte einer Zeit-Journalistin in Kürze nur den Vorsitz des größten deutschen FDP-Bezirks Köln übernehmen. Nun soll er an Stelle von Gesundheitsminister Daniel Bahr den Landesvorsitz der Liberalen schultern und als Spitzenkandidat ins Rennen gehen. Dabei hat er zwei Ziele: Erstens muss er die FDP über die Fünf-Prozent-Hürde bugsieren. Und zweitens muss er ausgerechnet das politische Überleben seines Ex-Chefs Rösler sicher stellen, mit dem er zuletzt nicht mehr allzu gut zurecht gekommen war. Ob der linksliberale Lindner inhaltliche Gegenakzente zur eher „linken“ NRW-CDU, zur SPD und zu den Grünen zu setzen vermag, bleibt allerdings fraglich. Mediale Aufmerksamkeit haben FDP und Lindner zwar dadurch gewonnen, dass er Spitzenkandidat und Landeschef wird. Doch an eine Koalition der FDP mit den beiden „großen“ Parteien nach der Wahl am 13. Mai glaubt kaum jemand im Land.

Wirtschaftsexperte Michael Zondler, Geschäftsführer des Beratungsunternehmens centomo http://www.centomo.de, hat allerdings ganz andere Sorgen als die politischen Parteien: „Die Politik darf sich durch permanente Dauerwahlkämpfe nicht selbst lähmen. Die Landtagswahl in NRW gilt als kleine Bundestagswahl und hat auch massive Auswirkungen auf das Geschehen in Berlin. Zudem wird in diesem Jahr noch in Schleswig-Holstein und im Saarland gewählt. Dabei müsste das schwarz-gelbe Bündnis in Berlin eigentlich noch einige Baustellen beackern. Entscheidende Durchbrüche bei der Steuer- und Rentenreform, bei der Energiewende sowie der Frage des demografischen Wandels – hierzu gehören die Aspekte Zuwanderung und Fachkräftemangel – sind bisher ausgeblieben. Es ist fraglich, ob die Politik angesichts der Dauerwahlkämpfe die nötige Kraft findet, die entscheidende Problemlösungskompetenz an den Tag zu legen. Politische Karrieren oder Personalfragen sind gegenüber den Zukunftsfragen unseres Landes aber nachrangig, zumal Wirtschaftsminister Rösler so gut wie nichts aus seinem Ressort macht und Finanzminister Schäuble zu wenig Akzente in der Steuerpolitik setzt, um Anreize für Leistungsträger zu setzen.“

Welt-Urgestein Herbert Kremp findet die Lage in NRW sogar „zum Erbarmen“ http://www.welt.de/print/welt_kompakt/debatte/article13934177/Zum-Erbarmen.html. Aus der Schlüsselregion der jungen Bundesrepublik mit Bergbau- und Hüttenanteil von 12,3 Prozent am Sozialprodukt sei eine „Landschaft ausgeprägter Subventionskultur“ geworden: „Städte wie Gelsenkirchen und Duisburg sind zum Barmen und Harmen.“ Doch über die großen Strukturprobleme im Land erfahre man wenig, kritisiert Kremp: „Es geht, wie stets bei Wahlen, um Koalitionen und Personen.“ Den „bürgerlichen“ Parteien an Rhein und Ruhr traut der Welt-Autor offenbar wenig zu. Die CDU wirke ausgelaugt und sei seit dem „Ende der Rüttgers-Regierung von Kompetenzverlusten geplagt“. Dies erkläre die Parteiwahl Norbert Röttgens, „gibt aber auch Auskunft über dessen offensichtliche Unlust, sich im Reich der Zwerge in die Opposition einbinden zu lassen. Die Attitüde, nur im Lande zu bleiben, wenn er ganz oben sein darf, kann die Partei, die bei der letzten Wahl im Fotofinish mit 0,1 Prozent stärkste Partei wurde, das numerische Primat kosten. Über Röttgen braucht man sich keine Gedanken zu machen: Er ist ein Technokrat, ein ziemlich kalter Fisch und nur des weiteren Berliner Ehrgeizes wegen an die Spitze des etwas verhärmt wirkenden größten CDU-Landesverbands der Republik getreten.“

Zondler verweist auf ein neues Buch http://web.klartext-verlag.de/bookdetail.aspx?ISBN=978-3-8375-0718-8 über die – so die FAZ – „alten neuen Schwierigkeiten im Revier“. So verliere das Ruhrgebiet ständig an Humankapital und an Handlungsfähigkeit. „Die Herzkammer von NRW braucht eine neue Bildungsoffensive. Das Revier darf sich nicht nur über hervorragenden Fußball definieren. Um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern, ist mehr soziale Durchlässigkeit vonnöten. Leider ist der alte Aufstiegswille der klassischen Arbeiterhaushalte ziemlich erloschen. Einst strömten die Kinder aus Arbeiterhaushalten an die neuen Hochschulen im Land. Es wäre gut für das Land, wenn Hannelore Kraft, Norbert Röttgen und Co. wieder an diesen alten Aufstiegsgeist – der nur über Bildung und Qualifizierung führen kann – appellieren würden.“ Doch der Traum von einem Dauerwahlkampf über Inhalte statt Personen bliebe wohl nur eine fromme Illusion, so Personalexperte Zondler abschließend.
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